„Demokratie findet vor Ort statt oder gar nicht!“ – Dr. Michael Blume – Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg zu Gast in der KZ-Gedenkstätte
Am 23. Januar 2020 sprach Dr. Blume auf Einladung unseres Vereins im voll besetzten Seminarraum der Gedenkstätte vor rund 50 Zuhörern zum Thema „Hilft Gedenken gegen Antisemitismus?“. In seinem Vortrag ging er zum einen ausführlich auf die weit zurückreichenden Wurzeln des Antisemitismus ein. Seine zweite wichtige Fragestellung war es, welche – leider sehr aktuelle und gefährliche Rolle – Antisemitismus heute im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien und Rassismus beim Erstarken des Rechtspopulismus und der Bedrohung unseres demokratischen Staatswesens spielt.
In seinen Ausführungen stellte er heraus, dass die Stereotype gegenüber Juden sehr alt und Antisemiten nicht sehr kreativ seien. Schon in der Antike wurde das Judentum von den Herrschenden sehr kritisch gesehen und bekämpft, weil es das Alphabet eingeführt hat und dafür eintrat, dass jeder, auch z.B. Sklaven, Frauen, lesen und schreiben können sollte. Es war die erste Bildungsbewegung, die alle Schichten in ihren Bildungsmaßnahmen mit einbezog. So wurden die Juden, die zudem immer zusammenhielten, sehr rasch mit vielen, auch heute wiederauftauchenden Vorurteilen, bedacht. In den Augen der Antisemiten zogen und ziehen Juden andere z.B. bei Finanzgeschäften über den Tisch oder sind verantwortlich für viele negativen Ereignissen wie die Ausbreitung von Krankheiten (Brunnenvergifter). Es gibt in ihren Augen eine jüdisch-zionistische Weltverschwörung und hierzu entwickeln sie entsprechende Verschwörungsmythen, die in der heutigen Zeit bis hin zum Zuzug nicht-christlicher Flüchtlinge nach Europa im steckt.
Um das gegenwärtige Wiedererstarken des Antisemitismus zu erklären, wies Dr. Blume zudem darauf hin, dass immer bei historischen Umbruchsituationen im Bereich der Medien dies eben auch den Antisemitismus beförderte und zu seiner Verbreitung führte. Beispiele aus der frühen Neuzeit mit den späten lutherischen, antisemitischen Schriften, denen der Buchdruck zur Ausbreitung verhalf, oder aus der Zeit des Nationalsozialismus als Goebbels und die Nazis die Möglichkeiten der neuen Medien Radio und Film erkannten und bewusst zum Transport der antijüdischen Einstellungen und der Indoktrination der Bevölkerung nutzten.
Mit weiter fortschreitender Digitalisierung, der Ausbreitung und Nutzung sozialer Medien und mit dem Internet allgemein erreicht der Einfluss des Antisemitismus gegenwärtig eine neue Qualität. Dadurch dass die Algorithmen der großen Digitalkonzerne dafür sorgen, dass die Nutzer der sozialen Medien immer weiter mit solchen Nachrichten und Botschaften, die ihrem eigenen Weltbild entsprechen oder ähneln, bombardiert werden, verfestigen sich antisemitische oder rechtsextremistische Einstellungen. Und dies geschieht ganz legal, weil u.a. sehr rechts und antisemitisch eingestellte Nachrichtenagenturen ihre Botschaften z.B. bei Facebook verbreiten dürfen und sogar dafür bezahlt werden.
Hinzu kommt, dass jüdische Weltverschwörungstheorien im Netz weit verbreitet sind und dadurch vorgeprägte Personen fataler Weise sehr leicht radikalisiert werden. So auch der Attentäter von Halle. In dessen Denken ist jemand, der nicht gegen die angebliche Weltverschwörung vorgeht, dumm oder ein Teil derselben. Im „pathologischen Dualismus“ der Antisemiten, so Blume, gebe es eben nur Gut oder Böse. Weil er nicht in die Synagoge gelang, hat er zwei willkürlich angetroffene Unbeteiligte getötet, um nicht ohne „body count“ aus dem „Akt der Notwehr“ heraus zu kommen.
„Wissen allein reicht nicht!“, meinte Dr. Blume auf die Frage, was denn nun gegen Antisemitismus getan werden könne. Die lokalen Gedenkstätten, wie die in Vaihingen/Enz, könnten vermitteln, dass der Holocaust und damit die radikalste Realisierung des Antisemitismus nicht nur weit weg in den großen Vernichtungslagern im heutigen Polen stattfand, sondern auch in unmittelbarer Nähe. Bei einem Rundgang am Nachmittag zeigte er sich von der Gedenkstätte und ihrer Arbeit beeindruckt. Er attestierte, dass sie eben auch für die gegenwärtige Demokratiebildung und Wertevermittlung vor Ort unabdingbar ist. Wertevermittlung heißt, dass die Besucher erfahren, was für Wertesysteme /Menschenbilder damals zu diesem Massenmord führte und was heutzutage für Wertesysteme /Menschenbilder für unsere Demokratie notwendig sind.